Als 1993 Jurassic Park in die Kinos kam, wollte ich mir den Film anschauen und durfte nicht. Dass ich auf einen der genialsten Filme aller Zeiten trotzdem nicht verzichten musste, verdanke ich einer dreisten Idee meines Vaters.
Meine Eltern gingen eigentlich nie ins Kino. Und wenn, dann mit Sicherheit nicht in den selben Film. Kein Wunder, konnten sie sich doch noch nicht mal auf das Fernsehprogramm zu Weihnachten einigen. Zwischen „stirb langsam“ und dem Traumschiff klaffen nunmal unüberbrückbare Geschmacksunterschiede.
Dementsprechend baff war ich, als meine Eltern mir plötzlich eröffneten: „Wir gehen heute Abend mal ins Kino.“ Mitten in der Woche, an einem ganz normalen Donnerstag. Mein Weltbild verschob sich. Doch dann erzählte mein Vater, welchen Film sie sich ansehen würden und schlagartig war alles klar. Die Antwort, die alle Rätsel löste brauchte nur zwei Worte: Jurassic Park.
1993 – der Beginn der Kreidezeit
Schon Monate vor dem Kinostart in Deutschland am 2. September 1993 gab es in meiner Schulklasse kein anderes Thema mehr. Schüler mit Lese-Rechtschreibschwäche kritzelten plötzlich fehlerfrei Wörter wie „Triceratops“ und „Velociraptor“ an die Tafel. Die Dinosaurier lebten längst unter uns – ganz ohne ein aufwändiges Klonverfahren.
Bei McDonalds lagen jedem Junior-Menü grüne Plastikviehcher mit Schuppen und Hörnern bei. An der Kasse wurde statt nach Ketchup oder Majo jetzt gefragt: „Mit Stegosaurus oder T-Rex?“ Und ein bekannter Tiefkühl-Lieferservice bot sogar knusprige Dinos aus Hähnchenfleisch an. Dass wir sogar im Heimatkundeunterricht eine Projektwoche zum Thema „Dinosaurier im Main-Taunus-Kreis“ einschoben, muss ich wohl nicht extra erwähnen.
Medialer Hype mit Hindernissen
Lange vor Harry Potter erlebte ich meinen ersten medialen Hype. Ich war sogar richtig stolz, dass selbst meine Eltern sich von der Urzeitwelle hatten anstecken lassen. Das einzig blöde war: Ich selbst hatte keine Chance, „Jurassic Park“ zu sehen. Zumindest nicht im Kino.
Mit meiner Blindheit hatte das gar nichts zu tun. Ein leidenschaftlicher Kinogänger war ich schon immer, ob ich die Bilder nun sehen konnte oder nicht. Und was sich mir nicht über die Geräusche und die Dialoge erschloss, ließ ich mir von meinen Eltern oder sehenden Freunden einfach erklären. Nein, das Problem war ein ganz anderes – die Altersfreigabe nämlich. Freigegeben war das Spielberg-Meisterwerk ab 12 Jahren. 1993 war ich neun, und ich verfügte im Gegensatz zu einigen meiner Schulkameraden nicht über die nötige äußere Erscheinung, um mit etwas gutem Willen als Zwölfjähriger durchzugehen.
War damit mein Traum von den Dinos ausgeträumt? Keineswegs. Wie sagte schon Jurassic-Park-Gründer Hammond im Film: „Die Natur wird einen Weg finden.“ In meinem Fall kam dieser Weg durch eine tolle Idee meines Vaters. Eine Idee, für die man heute hochkant aus jedem Kino rausfliegen würde – wenn nicht schlimmeres.
Mit dem Recorder ins Kino
Mein Vater klemmte sich nämlich meinen tragbaren Kassettenrecorder unter den Arm. Schon damals war dieses Gerät, um beim Thema des Films zu bleiben, ein Fossil: Batteriebetrieben, verschrammt, etwa so groß wie zwei Bügeleisen – und ebenso unhandlich. Ein stärkerer Kontrast zu den Hightech-Gerätschaften auf der Leinwand war kaum vorstellbar.
Mit diesem mobilen Aufnahmeprügel schlenderte mein Vater seelenruhig durch die Kinokasse, vorbei am Kartenabreißer und bis auf den reservierten Platz. Dort machten es sich meine Eltern gemütlich. Zwischen sich eine Tüte Popcorn und auf dem Schoß den Recorder mit einer frischen Leerkassette. Im Rückblick kann ich nur sagen: Damals war Kino noch richtig entspannt.
Besser als jedes Hörspiel
Als die ersten Urzeitmonster losbrüllten, drückte mein Vater die Aufnahmetaste. Der Recorder lief den ganzen Abend. Und am nächsten Morgen präsentierte mir mein Vater stolz meine persönliche Hörspielkassettenversion von „Jurassic Park.“
Zugegeben, die Klangqualität war mehr als unterirdisch. Meine Eltern waren noch ganz ergriffen von den umwerfenden Spezialeffekten, mit denen Spielberg die Dinos zum Leben erweckt hatte. Der Teil des Films der bei mir ankam war im wesentlichen verrauscht, übersteuert und an mehreren Stellen unterbrochen – durch das umdrehen der Kassette und einmal sogar durch einen Dialog meiner Eltern: „Hier, halt du mal, mir schläft das Bein ein.“
Trotzdem habe ich selten etwas spannenderes gehört als diese raubkopierte Tonspur. Auch durch die schmalbrüstigen Lautsprecher begeisterte mich die Geschichte, die nie zuvor gehörten Dino-Geräusche, ja sogar die mitreißende und unverwechselbare Musik.
Die Geschichte geht weiter
Zwei Jahre später räkelte ich mich faul auf einem Liegestuhl. Die Insel, auf der meine Eltern und ich damals die Sommerferien verbrachten, lag übrigens nicht vor der Küste von Costa Rica, wie die berühmte Dinosaurier-Insel. Nein, es handelte sich um das gute alte Mallorca: Unspektakulär, Mitte der 90er aber trotzdem noch irgendwie charmant.
Vom Meeresrauschen bekam ich an diesem Nachmittag nicht allzuviel mit, denn ich hatte Kopfhörer auf. Gebannt lauschte ich – mal wieder – Jurassic Park. Diesmal als ganz legal gekaufte Kassette, dem Originalhörspiel zum Film. Ein paar neue Hörspielkassetten gehörten zum Urlaub mit den Eltern genauso dazu wie das Popcorn zum Kino. Übrigens muss das einer der letzten Urlaube gewesen sein, bei dem mein Walkman zum Einsatz kam – noch so ein Überbleibsel aus einem Land vor unserer Zeit.
Weil’s so schön war, gab es hinterher auch noch das Hörspiel zum zweiten Jurassic-Park-Film „die vergessene Welt“. Ob es zu Teil 3 auch eine Version für Kassettenkinder gab, ist mir nicht bekannt. Aber der dritte Film war ohnehin sein Zelluloid nicht wert. Vor ein paar Jahren erst erschienen die beiden Romane von Michael Crichton zu den Filmen als ungekürzte Hörbücher. Sie werden von Oliver „Justus Jonas“ Rohrbeck gelesen und sie sind eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen ich ihn als Vorlesestimme mag. Für literarisch anspruchsvolles klingt seine Stimme einfach zu flapsig, zu jungenhaft. Rohrbeck hat eine Filmstimme, eine Stimme für bewegte Bilder. Wenn er „Jurassic Park“ liest, habe ich fast ein Kinogefühl. Diese Hörbücher empfehle ich jedem, der nicht das Glück hatte, Jurassic Park in jungen Jahren vor dem Kassettenrecorder erleben zu dürfen.
Über 20 Jahre später sitze ich selbst im Kino. Wieder höre ich Dinosaurier brüllen. Aber jetzt brauche ich kein Tonbandgerät mehr, und auch niemanden, der mir die Bilder auf der Leinwand beschreibt. Wie ich „Jurassic World“ erlebt habe und warum dieser Film auch für mich ganz persönlich einen noch viel größeren Meilenstein bedeutet hat, erzähle ich euch in meinem nächsten Blogbeitrag hier in der Bilderflut. Bis dahin: Dran bleiben und bitte nicht fressen lassen.